Ausbilden nach der „Skala der Ausbildung“ heißt nicht, dass man sich von Punkt zu Punkt voranarbeitet und sie unabhängig voneinander zu erreichen wären. Vielmehr ist die Qualität der einzelnen Punkte entscheidend, denn sie stehen immer in einem Zusammenhang. Dieser lässt sich am Muskelsystem des Pferdes erklären:

Das Muskelsystem des Pferdes besteht aus einer Anordnung von Beugern und Streckern. Diese Muskelgruppen müssen in ihrer natürlichen Funktion beansprucht werden, um ihren Aufbau zu fördern. Das An- und Abspannen in einem gleichmäßigen Rythmus ist die Grundlage für jedes Training. Dabei ist nicht nur auf das räumliche und zeitliche Gleichmaß der Bewegung zu achten, sondern auch die Bewegungsgeschwindigkeit (Tempo). Dies muss der natürlichen Bewegung des Pferdes entsprechen, damit das Pferd in einem gleichmäßigen Takt auch Zeit hat den Muskel nach der geforderten Anspannung wieder loszulassen- sich also in „Losgelassenheit“ bewegen kann.

Losgelassenheit meint nicht das schlaffe Lösen von verspannter Muskulatur, sondern das Erreichen einer federnden Grundspannung im Körper, erzeugt durch das gleichmäßige Wechselspiel der Antagonisten, bei der das Pferd im maximal gebeugtem und maximal gestrecktem Zustand einmal die entsprechenden Antagonisten zu den gerade kontrahierten Muskeln am Ende des Bewegungsweges „entspannt“. Dadurch kann der Antagonist im Gleichmaß die Gegenbewegung ausführen, ohne gegen den Widerstand einer Restanspannung wirken zu müssen. Zudem kann der Rücken des Pferdes nur im gleichmäßigen Rhythmus auf und abschwingen und sich dabei aufwölben und dehnen. Diese Dehnung des schwingenden Rückens ist Voraussetzung für eine gleichmäßige Anlehnung.

Eine gleichmäßige Anlehnung, bei der das Pferd selbst die Hand sucht und ein federnder Zug in die Hand hinein entsteht, ist nur im Zustand der gleichmäßigen taktmäßigen Losgelassenheit möglich. An dieser Stelle kommt die Wirkung des Streck- und Beugesystems des Pferdes zum vollen Einsatz. Erst wenn die Anlehnung in dieser Form auf beiden Händen hergestellt ist, wird es möglich den Schwung des Pferdes so zu nutzen oder anzuregen, dass Takt, Losgelassenheit und Anlehnung verbessert werden.
Zu Beginn der Ausbildung bewegt sich das Pferd in einem Takt (und Tempo), der zur Losgelassenheit führt, in einer seinem Gebäude angemessenen Dehnungshaltung und zeigt seinen natürlichen Schwung. Dieser wird den Pferden in unterschiedlicher Ausprägung von der Natur mitgegeben. Der in der Skala der Ausbildung gemeinte Schwung beinhaltet das Ergebnis reiterlicher Ausbildung in der Form, dass auch ein Pferd mit begrenztem natürlichem Schwung in der Lage ist, durch die systematische reiterliche dressurmäßige Gymnastisierung die Schubkraft seiner Hinterhand zu entwickeln.
Dieser Schwung kann dann, wie bei hochtalentierten Pferden auch, durch die Geraderichtung auf beiden Händen gleichmäßig über den Rücken und das Genick bis zum Maul des Pferdes wirken kann. Dafür muss das Pferd durch die seitliche Biegearbeit so geschmeidig gemacht geworden sein, dass es in der Lage ist beide Körperhälften gleichmäßig zu belasten, und bereitwillig auf die treibenden Hilfen des Reiters an beide Zügel herantritt. So können die verhaltenen Hilfen des Reiters (Paraden) vom Maul über das Genick und über den Rücken auch bis zur Hinterhand ankommen und gleichmäßig auf beide Hinterbeine wirken. Damit ist der Reiter in der Lage die gewonnene Schubkraft in Tragkraft umzuwandeln und sein Pferd zu versammeln.
In der Versammlung soll der entwickelte Schwung durch vermehrte Lastaufnahme der Hinterbeine unter Beugung der Hanken in die kadenzierten Bewegungen ohne Taktverlust, Anspannung oder Anlehnungsunsicherheiten mitgenommen werden. Um dies erfüllen zu können braucht das Pferd enorm viel Kraft, da die maximale Beugung der Gelenke ein hohes Maß an Muskelanspannung benötigt, welche das Pferd erst im Laufe jahreslangen physiologisch richtigen Trainings erwerben wird.
Die Kraft und die Fähigkeit der Muskelanspannung kann nur aus einem losgelassen arbeitenden Muskel erfolgen.

Text: Christiane Seelig (c) 2022